Die Norm der Form
Text von Thomas Schoenberger zur Ausstellung “SOFT BODIES HARD FEELINGS” (Maquis Mami Wata, Mannheim, Juni 2026)
In Helena Renners Arbeiten ist immer auch das interessant / was nicht zu sehen ist / was abwesend ist und zugleich anwesend / die Zurückweisung eines imaginären Ideals / die perfekte Linie der Schulter / der Taille / der Hüften / die perfekte Glattheit der Haut /
Über Körper zu arbeiten heisst immer auch / das Ideal der Norm der Form mitdenken zu müssen /
Einer Norm die fernab der Körper / einem abstrahierenden Geist entsprungen ist / einem Geist der wie ein undurchdringlicher Nebel durch die Philosophiegeschichte wabert / mit dem Anspruch / der Ort des Bewusstseins zu sein /
Die Frage stellt sich / ob das Bewusstsein nicht doch eher in den Körpern wohnt / in Körpern die sich mit Gesten durch die Welt bewegen /
Für Helena Renner sind Gesten eine Sprache des Widerstreits / einer Sprache gegen die Norm der Form /
Es sind die Gesten des Zeigens / des Verbergens / des Korrigierens / des Körpers /
In ihrer photografischen Serie Worn out / ist es die Geste des Straffens / mit der Helena Renner die Möglichkeit einer doppelten Deutung offenlegt / die künstliche Hülle des Körpers / die gestraffte Textilie / steht für das Straffen der Haut /
Verstärkt wird die Wirkung des zweifachen Straffens noch durch die Wahl der Farbe ihres Bodys / in der Farbe ihrer eigenen Haut / ebenso durch die aufgestickten Streifen dieses Bodys / die den Streifen auf der eigenen Haut ähnlich sind / die Geste des Straffens zeigt den Widerstreit gegen die Glattheit in einem performativen fotografischen Akt / die Streifen bleiben / auf der textilen Hülle als auch auf der Haut / das Straffen bleibt nutzlos /
In Skinny Fat übt Helena Renner Druck auf den eigenen Körper aus / eine Falte bildet sich an der Hautoberfläche / die Falte passt nicht zum Ideal / die Falte ist in ihren vielfaltigen Variationen der Faltung / das Aufbegehren des Körpers gegen die monotone gerade Linie / Die Falte ist am Körper immer etwas Störendes / entweder kommt sie vom Fett / so ist sie zu beseitigen / dasselbe gilt für die Falte des Alterns / die Falte steht in ihrer barocken Disposition für die Vielfalt der Formen / die Falte ist widerspenstig / sie ist schwerer messbar als die gerade Linie / in ihrer nicht messbaren Antimodernität steht die Falte gegen die Ordnung des modernen Lean Cuisine Fetischismus /
Helena Renner trägt zu dieser inszenierten Faltung der Haut ihres Körpers ein sogenanntes Shaping Panty / aus hautfarbenen Rüschen / der Körper erhält durch das Shaping Panty eine imaginäre Form / die den Körper in seiner natürlichen Form verleugnet / das Shaping Panty ist eng wie ein Korsett / ein Hilfsmittel um Korrekturen vorzunehmen / nach dem Abnehmen / nach dem Kinderkriegen / um die Haut in Form zu halten /
Skinny Fat ist ein Begriff / der in seiner zusammengefügten Gegensätzlichkeit von Skinny und Fat / für die Absurdität im Umgang mit den Spuren des Lebens steht /
Es geht niemals nur um den einzelnen Körper / Sobald die Körper mit anderen Körpern in Vergleich treten / wird ein Tribut fällig /
Die Entfremdung vom eigenen Körper /
George Bataille stellt zu dieser Entfremdung resignierend fest / Zitat: „es gibt für den Menschen nichts Wichtigeres als zu erkennen, dass er dem, was ihn am meisten ekelt, eng verbunden, ja ausgeliefert ist.“ Zitatende / Wie zur Bestätigung dieser Worte / zeigt Helena Renner ihr Triptychon Heavy Flow / In der Mitte des Triptychons ist eine kurze Hose / eine Hot Pants zu sehen / links und rechts an den Seiten sind zwei Binden positioniert / alle drei Objekte sind blütenweiss / auf den Objekten befindet sich in der Mitte jeweils ein tiefroter Fleck / der dazu noch glitzert / Helena Renner hat / um diese an sich schon irritierende Wirkung noch zu verstärken / auf die Acryl-und Aquarellfarbe / Schleifgranulat aufgetragen / zudem dunkelrote Edelsteine aufgestickt / um ihr Triptychon Heavy Flow noch stärker mit dem Attribut der Scham aufzuladen /
Die sozialen Medien beschleunigen die Entfremdung der Körper von sich selbst / Sie schaffen Plattformen gegenseitiger Kontrolle / Sie kuratieren die Körper / Sie enteignen die Körper-Bilder / Die sozialen Medien erwecken die Illusion / die Angleichung des eigenen Körpers an das Ideal der Norm sei eine freie Wahl /
Im Dickicht der Diskurse bleiben die Körper nackt / Begriffe wie Body Appreciation / Self-Love / Body Shaping / Body Shaming / dokumentieren die Körper-Konkurrenzen / Jede der Abweichungen wird taxiert / vermessen / in Form gepresst / Diäten scheitern im Auf und Ab von apollinischer Absicht und dionysischem Exzess / Entweder entspricht der Körper der Norm oder bleibt aussen vor / In Helena Renners Aufzeichnungen klingt der Zweifel über die zur Schau gestellte Body Positivity an / denn nichts vermag etwas gegen die Scheu auszurichten / als sich selbst im Spiegel zu betrachten /
Die Norm der Form ist deshalb so mächtig / weil sie überall präsent ist / und trotzdem vage bleibt / sie ist die Kalorienangabe auf dem Yoghurtbecher im Supermarktregal/ sie ist die Fastenkur / das Fitnesscenter / sie ist die Modestrecke in den Magazinen / mit ihren Models / egal ob es der Mainstream von Gucci - Prada ist oder die Avantgarde von Rick Owens bis Virgil Abloh / Hauptsache Grösse 32 / egal ob männlich / weiblich / non-binär /
Die Macht der Norm funktioniert nur über Akzeptanz der Disziplin /
Die Disziplinierung der Körper ist angeblich etwas Gutes / weil sie anstrengend ist / weil angeblich alles Anstrengende gut ist / Dem inneren Zwang zur Disziplinierung geht eine lange Geschichte der Konditionierung voraus / die mit roher Züchtigung anfing / und später an das individuelle Selbst überantwortet wurde / die Achtsamkeit gegenüber sich / ist nichts anderes als Zucht gegen sich / keine Disziplin bedeutet / der Norm nicht zu entsprechen / Die Strafe dafür ist die Schuld /
Man kennt die Forschung über die Disziplinierung / über die Bedeutung der Reglementierung in Anstalten und Kliniken / etwa bei Michel Foucault / in seiner Schrift Überwachen und Strafen / Untertitel / Die Geburt der Gefängnisse / Doch Foucault lässt einen wichtigen Teil der Geschichte aus / nämlich jenen / auf den alle folgenden Systeme der Disziplinierung aufbauen / die Geschichte der Sklaverei / die Geschichte der ausgeschlossenen Körper / die Körper der Sklaverei sind die ersten Opfer eines westlichen Ideals der weissen Ästhetik / Das System der Sklaverei war ein willkommenes Experiment für den Geltungsanspruch dieser Ästhetik / Zu einer Zeit als die Monumente weisser Ästhetik / die Kopien griechischer Skulpturen weltweit in Gerichtssälen / Behörden / Kanzleien / Universitäten der bürgerlichen weissen Welt herumstanden / als parallell zur Existenz der Sklaverei auch Menschrechte verhandelt wurden / Menschenrechte die sich nie explizit gegen Sklaverei richteten / die Kopien der griechischen Skulpturen mit ihren perfekten weissen Körpern / waren das ästhetische Ideal dieser Menschenrechte / aus dem Material des perfekten weissen parischen Marmors / einer besonders feinen / vor allem hellen Sorte / der Marmor von Paros / die Insel der Kykladen / mit dem Praxiteles gearbeitet hatte / das Ideal der Antike wurde zum Vorbild zukünftiger weisser Körper / die trügerische Schlichtheit dieser weissen Marmorskulpturen diente dazu / die Sklaverei ästhetisch zu begründen /
Darin liegt der Ursprung des Ideals der Norm der Form / die einen mächtigen Verbündeten hat / die philosophische Disziplin der Ästhetik / einer Disziplin die es geschafft hat / Sinn und Zweck ihrer Existenz gänzlich im Dunkeln zu belassen / die sich vollständige Autonomie für ein eigenes Universum verschaffte / für eine Zivilisation des Weiss-Seins / ein Universum das bestimmte / was eine Zivilisation ist und somit auch bestimme / was keine Zivilisation ist /
Makellos ist nur das Ideal / mächtiger als die wirkliche Welt / Helena Renner zerstört diese Imagination / Ihr Realismus ist frappant / Sie ironisiert die Gültigkeit genormter Formen am eigenen Körper /
Sie schafft eine Ästhetik des Widerstreits / Nutzt die Techniken der Verfremdung in der Vielfalt ihrer ausgearbeiteten Irritationen / Helena Renner entwickelt Fehler für die Wahrnehmung / die Edelsteine auf einem Body in ihrer Arbeit Craving/Starving / die aussehen wie Insekten / die aus ihrem Bauchnabel herauskriechen / Helena Renner irritiert wenn sie mit Edelsteinen Grenzlinien des eigenen Körpers markiert / wenn sie ihre weichen Skulpturen schlaff wie abgezogene Häute / trophäengleich an die Wand hängt / wenn sie in ihrer Arbeit Worth it BHs mit den Operationsnähten auf den Cups zeigt / rotes Garn für die Wunden / blaues Garn für die Nähte / Nähte um die Brustwarzen herum sowie an der Stelle, an der bei Schönheitsoperationen der Schnitt angesetzt wird / für die Straffung der Brüste / Helena Renner irritiert in ihrer photografischen Arbeit Expansion/Restriction mit dem Festzurren des Körpers / der mit zusammengesteckten Verlängerungsstücken für BHs umwickelt ist / jene Verlängerungsstücke / die eingesetzt werden / falls der Brustumfang grösser wird / in Expansion/Restriction steigert sich die Assoziation von Korsett / zu einer zwangsjackenähnlichen Konstruktion.
Helena Renner analysiert ihre komplexen Verfasstheiten von Körperlichkeiten in einer Inszenierung zwischen Skillness und Abstraktion / Skillness zu übersetzen wäre zu ungenau / Handwerklich ist zu sehr an den Zweck gebunden / Geschicklichkeit würde es auch nicht treffen / Helena Renners Skillness befähigt sie dazu / ihre Vorstellungen in präzisen Vorhaben auszuführen und nicht schon bei der Andeutung einer Idee stehen bleiben zu müssen / Was mit einem Medium nicht funktionieren würde / gelingt ihr mit diversen anderen / Das ist der Grund warum sie das Medium wechselt und es auch kann /
Ihre Skillness nutzt sie für ihre weichen Skulpturen / ebenso wie sie das Medium Photografie für ihre Abstraktionen / um die nächste Stufe ihrer Körperkritik mit Gesten durchzuexerzieren /
Sie verlässt sich in der Auffächerung ihres Repertoires der Möglichkeiten nie auf das Prinzip des Gefallenwollens / Das immer noch gültige Credo von Hans Gadamer / dass die bildende Kunst ein vergegenständlichter Denkvorgang ist / findet in Helena Renners Arbeiten eine expressive Bestätigung /